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Der brasilianische Ausnahmekünstler Hélio Oiticica wurde auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen ausgiebig gewürdigt. In der Reihe Forum Expanded, in der neben Filmen auch Vorträge und Installationen Platz finden, wurde der Dokumentarfilm Hélio Oiticica gezeigt, ein Panel mit Kunstexperten abgehalten und Teile der Installationsreihe Cosmococa in zwei verschiedenen Kontexten gezeigt: Einmal in der Schwimmhalle des Liquidroms und einmal im Berliner Ausstellungshaus Hamburger Bahnhof.

Der Regisseur des Dokumentarfilms ist Hélio Oiticicas noch junger Neffe César Oiticica Filho, der für seine rhythmische Montage und den kreativen Umgang mit dem 8- und 16mm-Filmmaterial und den auf Kassette aufgezeichneten Audiokommentaren seines Onkels von der Berlinale zwei Filmpreise mit nach Hause nahm: Den des Filmkritikerverbandes FIPRESCI sowie den Caligari-Filmpreis.

Ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm über einen Künstler, so hohe Wellen zu schlagen. Wie viele Versuche gab es bereits, allein in der jungen Vergangenheit drängen sich Erinnerungen an halbgare Halbgottbeweihräucherungen auf. Der Film Hélio Oiticica versucht nicht die Heiligkeit eines Galerieraumes nachzuahmen, er könnte auch einem MTV-Publikum vorgespielt werden und am nächsten Tag stellt man sich 14-jährige vor, die auf Facebook und Twitter über Oiticicas Interpretationen von Jimi Hendrix debattieren und fröhlich einstimmen in Oiticicas Gezetere über den „internationalen Kunstkontext“ und Andy Warhols Speichellecker.

Wie so oft gerade in brasilianischen Filmen spielt der Soundtrack eine herausragende Rolle und läuft in seinem Popappeal zum Teil Gefahr, Oiticica in eine etwas gefälligere Ecke zu rücken, als Letzterer es wohl abgesegnet hätte. So hat Oiticica zwar der Tropicália-Bewegung zu ihrem Namen verholfen und er zollt dem Erfindungsgeist Caetano Velosos seinen Respekt, doch selbst war Oiticica eher externer Betrachter dieser Bewegung. Er verfolgte Populärkultur, besonders auch Rock’n Roll und attestierte ihm den „menschenfressenden“ Charakter, der sonst nach der klassischen modernen Kunsttheorie der alles absorbierenden und als etwas Neues ausspuckenden brasilianischen Kunst zugeschrieben wurde.

So verabschiedet er sich konsequenterweise von seiner Liebe zum Samba, vom Tanzen in den Favelas seiner Heimatstadt Rio de Janeiros, was er bis in die 60er liebte und ihn inspirierte, als er in den 70ern darin ein zu Folklore erstarrtes Ritual sieht. Diese Melancholie des Verlusts, die Langeweile in London und New York, die Sehnsucht nach dem vibrierenden Straßenleben Rios – das fesselt ohne oberflächliche Effekte und dass dieser Mann einer der ganz großen des letzten Jahrhunderts war und dem 1980 viel zu früh Verstorbenen die Explosion im verhassten „internationalen Kunstkontext“ erst noch bevor steht, dürfte nach eineinhalbstündiger Sinnesüberflutung jedem Zuschauer unabwendbar erscheinen.

Auch sehenswert waren die Installationen der Cosmococa-Reihe, einem Quase-Cinema oder Fast-Kino aus Diaprojektionen und Musik. Im Liquidrom konnte man sich zum Soundtrack von John Cage auf dem Salzwasser treiben lassen und auf die auf die Kuppel projizierten Koksnasen schauen. Im Hamburger Bahnhof schauten eine Letztere unter dem Titel Coke’s Head Soup (angelehnt an das Rolling Stones-Album Goat’s Head Soup) von allen vier Wänden an, während man selbst auf einer Matratze in der Mitte liegen, sitzen oder herumtollen kann. Dazu lärmen selbstverständlich die Stones. Rock’n Roll, Drogen, Menschenfresserei – und dabei sehnt sich Oiticica doch nur nach Licht, Wärme und Sinnlichkeit.

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