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In einer Zeit, in der in den multiplexen deutscher Großstädte ganz selbstverständlich türkische Kassenschlager gezeigt werden – wenn auch meist ohne Untertitel und damit unzugänglich für deutschsprachige Liebhaber_innen des oder Neugierige auf das türkische Kino – bahnt sich auch das türkische Independent-Kino seinen Weg in mitteleuropäische Kinosäle. Auf dem Era New Horizons im polnischen Wroclaw hatte das Neue Türkische Kino sein eigenes Forum.

Es wurde eine Generation von Kinomachern vorgestellt, die ihre Karriere spät begonnen hat: Die meisten der um 1960 geborenen Regisseure (lediglich zwei Regisseurinnen sind dabei) konnte erst in den 90ern ihr Debut abiefern, unter ihnen Derviş Zaim , Ümit Ünal, Inan Temelkuran, Kazım Öz, Ismail Necmi, Murat Düzgünoğlu, Serder Akar, Pelin Esmer, Hüseyin Karabey und, ja, auch Fatih Akin. Die Situation für Kunst ist und bleibt prekär in der Türkei – ob z.B. der Goldene Bär der diesjährigen Berlinale an Bal von Semih Kaplanoğlu daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. In dieser Prekarität findet sich der gemeinsame Nenner der aktuellen türkischen Regisseure. Diese äußert sich auf der persönlichen Ebene, im Mikrokosmos Familie oder im Individuum allein – Stadt oder Land spielen dabei ihre jeweiligen Rollen, Politik dagegen bleibt fast völlig außen vor. In einer durchpolitisierten Gesellschaft, in der eine sehr weite Skala an Lebensstilen möglich ist und jede_r  in jungen Jahren entscheiden muss, ob sie sichtbare Haare, Kopftuch oder Schleier trägt und er, welchen Typ Frau er will, ob er Alkohol trinkt oder nicht, ob man Englisch lernt oder Arabisch, drückt die Abkehr von politischen Themen zugunsten individueller Schicksale eine Ideologiemüdigkeit und eine Art pessimistischen Humanismus aus.

Bezeichnend dafür ist etwa die Anfangsszene in Nuri Bilge Ceylans Spielfilmdebut Kasaba (The Small Town, 1997), in der Schulkinder in einem verschneiten Dorf vor der Schule die tägliche Lobeshymne auf Atatürk anstimmen, bzw. nervtötend schreien. Im Kontrast dazu steht die letztendlich sanfte Art des Lehrers und die Aufmerksamkeit der Kinder, die nicht beim Text über die ideale Gesellschaft verweilt, sondern auf Details wie Tropfen, die von einem aufgehängten nassen Socken zischend auf den Ofen fallen, träumerisch abdriftet. Szenen, in denen wir die Natur als Zauberwelt wie mit Kinderaugen erfahren können, füllen den Film zunehmend und machen Ceylans unglaubliches Gefühl für Bildkomposition und Rhythmus sichtbar. Die arme Familie außerhalb des Dorfes sitzt abends am Feuer zusammen, Opa und Vater erzählen die Geschichten ihres Lebens, während die Kinder liegend die Fledermäuse in den Baumkronen beobachten und eindösen.


In Ceylans Klassiker Uzak (Distant, 2002) sehen wir die Protagonisten in die Stadt versetzt, jedoch wirkt das verschneite Istanbul gespenstisch und still wie ein verwunschenes Dorf. Porträtiert werden zwei Verwandte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Der Ältere lebt bereits lange in Istanbul und ist zum Prototyp des zynischen Künstlers geworden: Zu Mitgefühl unfähig, schaut nur Tarkowski, wenn er nicht ungestört Pornos schauen kann, ist kalt zu seiner Ex-Frau, unterhält eine Affäre zu einer verheirateten Frau und meint, dass sein Metier, die Fotografie, tot sei. Der junge Verwandte dagegen ist einfach gestrickt, ein Kind, das zur See fahren will. Beide verbindet dann doch, wie sie sich an Frauen anschleichen und es nicht schaffen, sich zu zeigen und in Einsamkeit verharren. Sie sind  weit davon entfernt, dies einzugestehen und der junge Verwandte bringt das Leben des Älteren zwar durcheinander, ändert ihn jedoch keineswegs. Er reist ab, alles bleibt, wie es war. Und es bleibt vor allem wieder Ceylans großartige Fotografie.


Ein ähnlicher Film über die Einsamkeit im hier noch viel beschwerlicheren Istanbul ist Semih Kaplanoğ lus Meleğin düşüşü (Angel’s Fall, 2005), der nicht die Geschichte eines Falls, sondern einer Befreiung erzählt. Ein armes Mädchen vom Lande muss sich und ihren bequemen Vater in Istanbul durchbringen. Sie arbeitet als Putzfrau, schleppt Koffer, erteilt der Liebe eines jungen hübschen Kollegen eine Absage, gönnt sich keine Freuden. Als sie doch einmal eng anliegende Klamotten anprobiert, erwischt sie der Vater und macht eine Szene. Als er schließlich stirbt, beginnt ihr Leben. Interessant ist eine Figur, die langsam eingeführt wird; ein introvertierter Mann, der von seiner Frau verlassen wird und Audioaufnahmen auf dem Istanbuler Basar macht. Dieser Erzählstrang bricht ab, nachdem er kurz Kontakt zu dem Mädchen hatte. Dieser Bruch ist das einzig irritierende in einem sonst sehr konventionell erzählten Film.


Auch Zeki Demirkubuz erzählt in diesem ruhigen, dem Naturalismus verpflichteten Ton. Ihm wurde eine Retrospektive im Schwerpunkt «Neues Türkische Kino» gewidmet und acht Filme von 1994 (C-Blok/Block C) bis 2009 (skanmak/Envy) gezeigt. Der Letztere ein sorgfältig inszenierter Kostümfilm über familiäre Intrigen in einer mittelgroßen Stadt zur Anfangszeit der Türkischen Republik. Üçüncü Sayfa (The Third Page, 1999) ist da noch schneller und verspielter. Die melodramatische Geschichte zwischen einem verzweifelten Loser und einer geschlagenen Ehefrau in Istanbuler Elendswohnungen wird immer wieder durch Szenen der Seifenopern gebrochen, in denen der Loser ab und zu Nebenrollen ergattert. Erfrischend ist hier das augenzwinkernde Zitieren von Gangsterfilmen und der melodramtischen türkischen Tradition aus den 60ern und 70ern, die bis heute, besonders in Fernsehserien, weiterlebt. Sonst ist das Zitat zwar immer anwesend, jedoch scheint es, als ob ein türkischer Film ohne die etwas steife Sprache und Themen wie Schicksal und Ehre nicht auskomme.


Dagegen hat sich Theron Patterson am entschiedensten ausgesprochen – bezeichnenderweise ein US-Amerikaner, der sich vor acht Jahren in Istanbul niedergelassen hat. In Bahtı Kara (Dark Cloud, 2009) erzählt er die Geschichte des konsequenten Abstiegs eines Mannes, der noch nicht bereit für das Erwachsenenleben ist. Weder kann er alleine seinen fahrigen Sohn erziehen, noch eine Arbeit ordentlich ausführen. Abhängig von seinem Schwager schlägt er sich durch und wird durchgeschlagen, bis er sich durch Affekttaten vors Gericht bringt. Im Q&A erklärt Patterson, dass er in der Türkei nicht dafür angegriffen wurde, als Ausländer ein so fatales Urteil über einen türkischen Mann zu fällen. Im Gegenteil werde der Film allgemein gut aufgenommen und die Leute betonten, nie Figuren gesehen zu haben, die so sprechen und auf der Straße laufen, wie man es in der Realität beobachten kann. Wenn die Erwachsenen beisammen sitzen und der Absurdität des adoleszenten Äußerungen ihrer Kinder nichts entgegenzusetzen haben außer ein repetetives «valaha…!» und Schnippen und Abwinken, dann ist das einfach zu komisch vor Authenzität.


Ein weiter aktueller Film, der ganz neue Pfade erkundet, ist Kosmos von Reha Erdem. Hier überrascht die Hauptfigur, die einem Roman von Gabriel García Marquez entsprungen zu sein scheint: Kosmos kommt – wieder durch eine der so beliebten Schneelandschaften – in eine isolierte Grenzstadt. Er ist Wunderheiler, Prophet und mitfühlender Mensch. Wie die Gemeinde mit ihm umgeht – ihm um seiner Heilkräfte Willen ausnutzen will, ihn seiner Religiösität wegen respektiert und fürchtet, ihn in seiner ehrlich geäußerten Liebe für ein Mädchen und Zuneigung leidenden Frauen gegenüber verdammt – all das sind klare Analysen einer starren patriarchalen Ordnung, an der alle, außer einigen einflussreichen Männern, leiden oder gar untergehen. Wenn Kosmos klaut, um den Armen zu geben oder sich wieder beklauen zu lassen, wenn er mit dem Mädchen, das sich den Namen Neptün gibt, Tierlaute nachahmend durch die Natur tobt, dann wirkt der Film befreiend. Wenn Kosmos mit Steinen gejagt wird, im Teehaus verletzt wird, schnürt es einem die Kehle zu. Kosmos‘ weiche Stimme, seine Vorliebe für Zucker – wohl gegen die Bitterkeit der Welt – und seine Körperlichkeit sind ungemein mutig inszeniert. Diese Art von Magischem Realismus nimmt einen mit, ist nie lächerlich.


In diesen zwei neuen Produktionen – Bahtı Kara von 2009 und Kosmos von 2010 – liegen zwei ganz verschiedene Wege für das türkische Kino, sich vom melodramatischen Naturalismus loszusagen: in Richtung Realismus oder Magischem Realismus. Es bleibt spannend und fühlt sich mehr denn je nach kribbelndem Neuanfang an und nicht nach gesettletem Konsens. Für mehr türkische Independent-Filme in deutschen Programmkinos.

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